Ob man gesund altert, hat jeder zu 91 Prozent selbst in der Hand
Die Ernährung ist die wichtigste Stellschraube für eine gesunde Langlebigkeit. Davon ist Prof. Andreas Michalsen überzeugt. Der renommierte Mediziner erklärt, wie Sie die Chancen auf einen krankheitsfreien Lebensabend drastisch erhöhen und vor welchem Durchbruch die Forschung steht.
ABH: Herr Professor Michalsen, ob Kreativität, Schönheit oder Sportlichkeit. Es heißt gern, solche Attribute lägen in den Genen. Auch beim Thema Alter wird oft auf die Verwandten verwiesen. Wie viel hat der Mensch denn selbst in der Hand?
Prof. Andreas Michalsen: 91 Prozent.
ABH: 91 Prozent? Sind Sie sicher ?
Michalsen: 91 Prozent, ja. Das ist natürlich ein wenig präziser angegeben, als man es mit wissenschaftlicher Vorsicht vielleicht tun sollte. Die größte Datenauswertung in diesem Bereich stammt von Google. Deren Ausgründung Calico (Biotechnologie-Unternehmen, Anm. D. Red.) beschäftigt sich mit der Wissenschaft, wie der Mensch länger leben kann. Die Wissenschaftler haben anhand von Stammbaum-Daten und Lebensaltern hunderttausender Menschen die bislang größte Analyse gemacht, die der Genetik letztlich viel weniger Anteil am Alterungsprozess zuspricht, als es die Forschung bisher getan hat.
ABH: Welchen Einfluss hatte man der Genetik zuvor eingeräumt?
Michalsen: Unter anderem auf Grundlage von Zwillingsstudien war man bisher von 20 bis 30 Prozent ausgegangen. Die Wissenschaftler von Calico kamen bei ihren Erhebungen auf einen Wert von neun Prozent. Um die Zahlen ein wenig plastischer zu machen: Die Kollegen haben zum Beispiel herausgefunden, dass man eher das Alter seiner angeheirateten Familie erreicht als das Alter seiner angestammten Familie. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn man bei seiner angeheirateten Familie lebt, passt man sich im besten Fall eher deren gesunden Gewohnheiten an und verlässt sein eigenes familiäres Erbe. Natürlich gibt es Erkrankungen, die Ausnahmen darstellen. Aber im Endergebnis ist die Genetik viel unwichtiger für das Altern, als man bisher dachte.
ABH: Das klingt erst einmal nach einer guten Nachricht. Wie interpretieren Sie diese Erkenntnisse?
Michalsen: Ob man gesund altert, hat jeder zu 90 Prozent selbst in der Hand. Das ist eine echte Chance, wie ich finde. Natürlich gibt es Familien, in denen über mehrere Generationen immer wieder Herz-Kreislauf-Erkrankungen auftreten. Das liegt aber oft daran, dass ungesunde Gewohnheiten weitergegeben werden. Eine Selbstkonditionierung. Wenn eine Familie sich angewöhnt hat, nachmittags immer ein Stück Sahnetorte zu essen, ist das keine genetische, sondern eine soziale Komponente. Der Rückschluss wird oftmals falsch gezogen. Zu wenig Schlaf, ungesunde Ernährung, nicht fasten, zu wenig Sport: Drei Herzinfarkte in einer Familie liegen viel häufiger an den gemeinsamen Lebensgewohnheiten als an den Genen.
ABH: Dem Essen wird eine entscheidende Rolle im Alterungsprozess eingeräumt. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass wir Menschen immer mehr über gesunde Ernährungsweisen wissen. Warum steigt die Zahl der Übergewichtigen in Deutschland trotzdem Jahr für Jahr?
Michalsen: Das ist ein wahnsinnig spannender Punkt. Das ist ein Fakt, die Zahlen steigen. Wenn man sich die Statistiken anschaut, dann kommt man immer zu dem Punkt, dass irgendjemand oder irgendetwas beschuldigt wird. Die Menschen würden zum Beispiel immer dicker, weil niemand mehr Sport mache. Vor 20 Jahren war man überzeugt, dass alle zu fettreich essen und deshalb übergewichtig werden. Seit zehn Jahren essen wir alle zu viel Zucker und Kohlenhydrate. Spannend ist: Egal, wen oder was man beschuldigt, die Zahl der Adipositas-Fälle steigt einfach immer weiter.
ABH: Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Michalsen: In den USA gibt es noch deutlich mehr Studien und Zahlen zu dieser Thematik. Mit Blick auf den vermeintlichen Bewegungsmangel kann festgestellt werden, dass sich dieser in den vergangenen 30 Jahren nicht noch einmal großartig verschärft hat. Damals saßen die Menschen abends auch schon vor dem Fernseher, heute daddeln sie am Smartphone. Wenn ich nun einmal versuche, die wissenschaftlichen Daten zu bündeln, dann liegt es nicht nur am Zucker, nicht nur am Cholesterin, nicht nur an der mangelnden Bewegung. Was sich aber stringent durchzieht, ist die Tatsache, dass unsere Lebensmittel immer industrieller verarbeitet sind. Wir kochen immer weniger zu Hause, stattdessen gibt es vorproduzierte, konservierte und mit Zusatzstoffen angereicherte Nahrung. Ich möchte niemandem Angst machen, aber es ist ein Fakt, dass wir auch immer mehr Pestizide, Insektizide, Schwermetalle und Mikroplastik über unser Essen aufnehmen.
ABH Was bedeutet das für unseren Körper?
Michalsen: Aus experimenteller Sicht kann man relativ sicher sagen, dass ein Lebensmittel immer adipogener wird, je hoch verarbeiteter und schadstoffbelasteter es ist. Anders gesagt: Je unnatürlicher wir uns ernähren, desto schneller werden wir übergewichtig. Ich kann verstehen, dass die Lebensmittelindustrie ihre Produkte immer hyper-schmackhafter macht, um die Umsätze zu steigern. Dazu werden Mischungen aus Fett, Salz, Zucker und Aromen entwickelt, damit die Konsumenten möglichst viel davon essen. Dieses Phänomen kann man besonders gut an Tüten-Chips verdeutlichen. Ich kann bei Chips auch nicht aufhören. Für mich gab es aber einen Augenöffner.
ABH: Bitte.
Michalsen: Das war ein Experiment des Physikers Kevin Hall, einem der nüchternsten Wissenschaftler, die ich kenne. Der hat von der nationalen Gesundheitsbehörde der USA eine Art Studien-Hotel gestellt bekommen. Da wurde eine Gruppe von Menschen im Prinzip kaserniert, vier Wochen komplett überwacht und bekamen spezielle Lebensmittel zu essen. Da wurde vom Stuhlgang bis zur ausgeatmeten Luft alles analysiert. Ein wissenschaftliches Experiment mit höchster Aussagekraft. Die Probanden bekamen in ihrer Ernährung die gleichen Anteile an Fett, Kohlenhydraten, Salz, Eiweiß, Ballaststoffen und Vitaminen und durften so viel essen, wie sie wollten. Eine Hälfte der Teilnehmer bekam das Ganze aber in Form hoch verarbeiteter Produkte. Das Ergebnis: Diese Probanden nahmen pro Tag 500 Kilokalorien mehr zu sich als diejenigen, die natürliche Lebensmittel essen durften. Das sind pro Woche 3500 Kilokalorien und hochgerechnet auf ein Jahr 20 Kilogramm Körpergewicht mehr, nur weil die Lebensmittel energiedicht zubereitet waren. Das ist die Formel, um schnell adipös zu werden.
ABH: Der Geschmackssinn wird also auf zu viel Essen trainiert?
Michalsen: So kann man es formulieren. Es ist schwer, sich an einem Möhrensalat zu überessen. Man isst auch nicht zehn Äpfel, das macht einfach niemand. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass nicht alles Verarbeitete schlecht ist. Es ist auch lecker, es gehört auch teils zu unserer Essenskultur. Aber uns muss klar werden, dass das ganze System darauf abzielt, dass wir mehr essen als wir sollten. Ich befürchte, dass dies den meisten Menschen gar nicht bewusst ist. Gleichzeitig weiß ich, dass es nicht einfach ist, aus diesem Kreislauf auszusteigen.
ABH: Aber manche Sachen schmecken halt auch einfach zu gut.
Michalsen: Das geht mir doch genauso. Wir sind alle keine geborenen Asketen. Ich möchte auch niemanden zum Asketen machen. Ich höre das Geschmacksargument häufig. Ja, Möhrensalat schmeckt nicht, wenn der Gaumen auf Pommes-Currywurst getrimmt ist. Wer an Chips gewöhnt ist, empfindet einen Maiskolben als fad. Man muss eine gewisse Zeit des Übergangs einplanen. Ich empfehle bei Ernährungsberatungen in der Regel drei Monate der Umgewöhnung.
ABH: Wir sprechen darüber ja auch unter der Prämisse, dass jemand länger gesund bleiben will.
Michalsen: Genau, das muss jeder für sich entscheiden. Ich persönlich halte es nur für ein unsinniges Argument zu sagen, dass das Leben nach so einer Ernährungsumstellung keinen Spaß mehr macht. Ich sehe jeden Tag dutzende Menschen, die Aufgrund ihrer schlechten Ernährung mit Knie-, Kopf- und Rückenschmerzen, Darmentzündungen, Herzinfarkten oder Diabetes leben müssen. Das macht mit Sicherheit auch keinen Spaß. Wir leben eben nicht im Paradies, wo man den ganzen Tag essen kann, was man will, um mit 80 tot umzufallen und ein schönes Leben gehabt zu haben. Das funktioniert mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht.
ABH: Haben Sie für diese Anti-Paradies-Formel Zahlen?
Michalsen: 90 Prozent der Menschen, die sich schlecht ernähren, bekommen spätestens mit 50 bis 60 Jahren Schmerzen und andere körperliche Beschwerden. Diese Rechnung möchte ich öffnen. Wenn wir in einer Welt lebten, in der es uns allen gut ginge, weil wir jeden Tag Pizza und Pommes essen, wäre ich der Letzte, der Einspruch erheben würde. Leben wir aber leider nicht. Es geht mir nicht um eine Bevormundung, aber es macht keinen Spaß, ab einem gewissen Alter morgens mit Schmerzen aufzuwachen. Ich möchte niemandem sein Schnitzel wegnehmen. Aber wenn man sich bewusst ernährt, kann man die letzten 30 Jahre seines Lebens wirklich Spaß haben. Wenn man es gut macht, vielleicht sogar 50 Jahre. An dem Punkt muss jeder für sich entscheiden, was er will.
SAFS: Da wären wir wieder bei den 91 Prozent vom Anfang.
Michalsen: Es gibt einen Ausdruck, den hat Matt Kaeberlein, einer der renommiertesten Altersforscher, geprägt – the lost decade. Das verlorene Jahrzehnt. Alle wollen alt werden, aber niemand will alt sein. Warum will niemand alt sein? Weil das Leben mit 80 oder 90 aufgrund von Krankheiten und Arztbesuchen in der Regel keinen Spaß macht. Da sind verlorene Jahre, bei manchen sogar zwei Jahrzehnte nach der Rente. Für diesen Zeitraum hat man sein Schicksal zu 90 Prozent in der eigenen Hand. Ich empfinde es als cool, wenn jemand mit 80 noch eine Bergwanderung macht und danach beim Italiener einen schönen Abend haben kann. Nach Zehntausenden Patienten sage ich, dass sich eine frühzeitige Ernährungsumstellung im Alter immens auszahlt.
ABH: Welche Rolle spielt der Zeitpunkt des Sinneswandels?
Michalsen: Norwegische Wissenschaftler haben im Rahmen der Studie Global Burden of Disease durchgerechnet, wie viele gesunde Lebensjahre man hinzugewinnt, wenn man sich ideal ernähren würde. Dazu haben sie drei Modelle und sechs Lösungen ausgerechnet. Wenn man sich ab 20 ideal ernährt, gewinnt man 13 gesunde Lebensjahre hinzu. 60-Jährige gewinnen gut acht Jahre hinzu, 80-Jährige immerhin noch zwei bis drei Jahre. Hält man diese Ernährungsumstellung zu zwei Dritteln ein, passen sich die hinzugewonnenen Lebensjahre entsprechend an. Das ist sehr viel. Um das einmal in Relation zu setzen. Angenommen, die Forschung könnte Krebserkrankungen komplett verhindern, würde das die durchschnittliche Lebenserwartung nur um etwas ein bis zwei Jahre steigern, weil dann andere Erkrankungen diesen Platz einnähmen.
ABH: Was bezeichnen Sie denn als eine ideale Ernährung?
Michalsen: Auf den ersten drei Rängen der Lebensmittel, die man täglich essen sollte, sind Hülsenfrüchte wie Bohnen, Linsen oder Kichererbsen. Dazu konsequent Vollkorngetreide statt Weißmehl – auch bei den Nudeln. Da gibt es mittlerweile hervorragende Produkte, die auch schmecken. An dritter Stelle kommen Nüsse und Samen.
ABH: Das erscheint erstaunlich einfach. Wo bleibt der Verzicht?
Michalsen: (lacht) Genau, jetzt kommt der schwierigere Teil. Sehr wenig Wurst, Fleisch, Süßigkeiten und Alkohol. Stattdessen mehr Obst und Gemüse. Beim Obstverzehr schneiden die Deutschen gar nicht schlecht ab. Ich rate dringend zu dunklen Beeren und Äpfeln.
ABH: Wie sieht es mit Milch aus? Da scheiden sich ein wenig die Geister.
Michalsen: Milch hat mittlerweile eine neutralere Rolle eingenommen. Mittlerweile weiß man, dass reine Milchprodukte ohne Fruchtzucker und Süßstoffe wie Joghurt oder Kefir gesund sind. Reine Kuhmilch eignet sich nicht als Getränk, weil wir keine Kälber sind, die wachsen müssen. Käse und Butter mit Blick auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Fettleber in Maßen genießen. Dabei kann man sich gut an der mediterranen Küche orientieren.
ABH: Ist Butter wirklich so ungesund?
Michalsen: Es kommt immer auf das Verhältnis an. Butter ist bei Weitem nicht so ungesund wie eine hoch verarbeitete Tiefkühlpizza. Wenn man Butterbrote oder Butterbrezeln mag und ansonsten viel Hülsenfrüchte und Obst isst, ist das überhaupt kein Problem. Es kommt auf die Mischung an.
ABH: Wir haben jetzt viel über Ernährung gesprochen. In Ihrem neuen Buch erklären Sie, wie man lange kraftvoll und gesund bleibt. Welche Quintessenzen gilt es zu beachten, wenn man länger gesund leben will?
Michalsen: Wer länger gesund leben will, sollte – wie besprochen – möglichst wenig hoch verarbeitete Lebensmittel essen. Das steht für mich auf Platz eins. Dafür so viele unterschiedliche Gemüse und Hülsenfrüchte wie möglich essen. Möglichst divers deshalb, weil die Forschung heute weiß, dass dies dem Mikrobiom zugutekommt. Dabei kann auch gern auf Tiefkühlkost zurückgegriffen werden, damit das Gemüse nicht schlecht wird. Ich empfehle jeden Tag eine Handvoll Nüsse. Dazu regelmäßige Essenspausen.
ABH: Sie spielen auf Intervallfasten an.
Michalsen: Ich rate zu einer Essenspause im Sinne eines moderaten Intervallfastens. Die 14:10-Methoden lässt sich ausgezeichnet nachhaltig umsetzen.
ABH: Wo wir gerade beim Thema sind. Kürzlich sorgte eine Studie zum 16:8-Intervallfasten für Aufsehen, nach der Fastende ein um 90 Prozent erhöhtes Risiko haben, an einer Herzerkrankung zu sterben. Das wäre im Kontext des gesunden Alterns kontraproduktiv.
Michalsen: Zur Einordnung: Es geht um ein Poster, das ist die unterste Form der wissenschaftlichen Mitteilung. Die wichtigsten Wissenschaftler des Forschungszweiges haben diese Veröffentlichung kommentiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich um eine ungenügende Studie mit nahezu null Prozent Aussagekraft handelt. Ich persönlich empfinde es als sehr ärgerlich, weil die Studien gar kein Intervallfasten untersucht hat. Die Autoren haben sich Daten von 20.000 Amerikanern aus der NHANES-Datenbank, die über viele Jahre medizinisch beobachtet wurden, angeschaut und analysiert, wie es denjenigen geunkt des Studienstarts im Jahr 2003 gab es noch gar kein Intervallfaht, die das Frühstück oder eine andere Mahlzeit weglassen. Zum Zeitpsten.
ABH: Das bedeutet für die Studie?
Michalsen: Die Untersuchten haben aus irgendeinem anderen beliebigen Grund auf eine Mahlzeit verzichtet. Liest man das Poster genauer, wird deutlich, dass unter den Probanden auch mehr Raucher waren, mehr Schlafmangel und Stress, sowie ein allgemein ungesünderes Verhalten zu beobachten waren. Man kann keinerlei Rückschlüsse auf das Intervallfasten ziehen, weil man überhaupt nicht nachvollziehen kann, warum die Menschen auf eine Mahlzeit bzw. Das Frühstück verzichtet haben. Das ist, mit Verlaub, Unsinn. Das versinnbildlicht das Dilemma der Ernährungswissenschaft, in der oftmals Ergebnisse von epidemiologischen Studien mit etwas in Zusammenhang gebracht werden, das einen ganz anderen Grund haben kann. Jahrzehntelang dachte man, Rotwein zu trinken sei gesund. Ist es nicht. Aber Rotwein-Trinker haben in der Regel mehr Geld, einen gesünderen Lebensstil und einen besseren Zugang zu medizinischer Versorgung. Ich empfehle beim Intervallfasten aber tatsächlich, den Hauptanteil der Tages-Kilokalorien nicht am Abend zu sich zu nehmen.
ABH: Welche Rolle spielt eine gesunde Leber beim Thema Langlebigkeit?
Michalsen: In Medizin-Lehrbüchern steht oft der Spruch: Der Schmerz der Leber ist die Müdigkeit. Die Leber schmerzt bei Erkrankungen in der Regel nicht, sondern man wird müde. Das Gehirn funktioniert nicht mehr so gut, man fühlt sich antriebslos. Hepatitis-Erkrankungen sind heute kein Problem mehr. Dafür haben 25 Prozent der Deutschen eine Fettleber, Tendenz steigend. Während meiner Facharzt-Ausbildung wurde der Befund Fettleber kommentarlos notiert, danach hat es niemanden weiter interessiert. Heute ist die Medizin weiter.
ABH: Welche Folgen hat eine Fettleber?
Michalsen: Leidet man längere Zeit unter einer Fettleber, kann sich daraus eine Hepatitis entwickeln, im schlimmsten Fall sogar Leberkrebs. Dazu folgt aus der Fettleber eine blöde Tatsache: Der Diabetes wird schlechter und sportliche Aktivitäten wirken nicht mehr so gut auf den Körper. Die Leber ist die zentrale Chemiefabrik des Körpers. Bisher gibt es auch noch keine wirksamen Medikamente gegen eine Fettleber-Erkrankung.
ABH: Wie ist der Forschungsstand auf diesem Themengebiet?
Michalsen: Wir wissen, dass Fasten und eine ballaststoffreiche Ernährung helfen. Der Sport hilft im ersten Moment nicht viel, weil die Fettleber, wie zuvor besprochen, die Wirkung mindert. Eine entscheidende Rolle spielt zudem das Mikrobiom. In fünf bis zehn Jahren wird man es gezielt beeinflussen können. In London versucht der Epidemiologe Tim Spector bereits, das Mikrobiom individualisiert zu beeinflussen; das ist derzeit allerdings noch kostspielig. Was für jeden gilt: Durch Ballaststoffe und Hülsenfrüchte, sowie Polyphenole aus den Farbstoffen von Gemüse und Beeren, kann man eine Fettleber in Kombination mit Fasten gut behandeln.
ABH: Die Ballaststoffe schwingen in jüngerer Vergangenheit zu den Superstars der Ernährungsforschung auf. Warum?
Michalsen: Die Bezeichnung Ballast-Stoffe ist überaus ungerecht. Lange Zeit dachte man, dass in Ballaststoffen keine verwertbaren Kohlenhydrate seien. In der Tat sind es sehr langkettige Kohlenhydrate, die von unseren Verdauungsenzymen nicht aufgespalten werden können. Ballaststoffe galten buchstäblich als Ballast. Diese Sichtweise hat sich komplett gedreht.
ABH: Erläutern Sie das gern.
Michalsen: Zwei Dinge sind an Ballaststoffen genial. Ballaststoffe sind die Nahrung für die guten Darmbakterien. Diese Bakterien sind ähnlich wichtig wie die Leber. Dazu kommt, dass Ballaststoffe ein gewisses Volumen mitbringen. Deshalb macht Vollkornbrot satter als ein Brötchen, es nimmt mehr Platz im Magen ein. Wir sind vom Mundraum bis zum Anus übersät mit Sensoren, die alle Daten messen, die für unsere Verdauung relevant sind. Wenn der Magen gedehnt wird, dann signalisiert das Hormon GLP1, dass wir satt sind. Ballaststoffe führen zur Ausschüttung dieses Hormons, genauso wie Abnehmspritzen. Sie haben kaum Kalorien und füttern die Darmbakterien.
ABH: Wie ernähren Sie sich?
Michalsen: Ich probiere viel aus. Ich ernähre mich nicht strikt vegan, aber sehr stark pflanzlich. Fleisch, Wurst und Eier esse ich nicht, dafür gelegentlich Milchprodukte. Ich bin sehr von der Relevanz des Mikrobioms überzeugt, deshalb versuche ich, 30 verschiedene Pflanzen pro Woche zu essen. Das klingt nach sehr viel, ist es aber nicht. Ich frühstücke wegen des Intervallfastens ein wenig später am Morgen. Dann gibt es ein selbst gemachtes Müsli mit Haferflocken, Leinsamen, Buchweizen, Nüssen, ein paar Apfelstückchen, Tiefkühlbeeren und Kleie, sodass ich schon einmal sechs bis sieben Pflanzen zusammen habe. Divers, aber mit möglichst wenig Zeitaufwand essen. Deshalb habe ich immer Gläser mit Erbsen, Rote Bete oder Bohnen in der Küche. Auf meinem Teller liegen auch Brot und Pasta, aber immer in Kombination mit mehreren Gemüsesorten. Wenn ich laufen gehe, nehme ich ein pflanzliches Proteinpulver. Mit 60 habe ich gemerkt, dass ich das brauche, wenn ich eine Runde mehr laufen will. Aber alles ohne Stress. Ich möchte einfach die Gegenleistung haben, dass ich mich morgens beim Aufstehen gut fühle.
ABH: Was lässt uns radikal altern?
Michalsen: Es sind zwei folgenreiche Aspekte. Wir altern schneller, wenn Zellreinigung und Zellneuerung, der Jungbrunnen des Organismus, nicht mehr so gut funktionieren. Die Zellreinigung, die Autophagie, die beim Fasten und Sport angeregt wird, entsorgt banal gesagt den Müll aus den Zellen. Mit den Lebensjahren funktioniert das immer schlechter, den Haut bekommt Flecken, wird unelastischer, die Organe werden spröde, die Gefäße sind nicht mehr so fein. Wir altern. Ein ungesunder Lebenswandel hemmt die Stammzellenproduktion zusätzlich. Wir altern schneller. Beides kann jeder gezielt optimieren.
ABH: Wie funktioniert das?
Michalsen: Durch Fasten, Sport und gesunde Ernährung. Eine Sache ist ebenfalls faszinierend. Wenn der Körper merkt, dass eine Zelle funktionsuntüchtig geworden ist, dann treibt er diese Zelle in der Regel quasi in den Selbstmord; Apoptose genannt. Es gibt aber Zombie-Zellen, die nicht absterben und im Körper verbleiben. Man geht heute davon aus, dass aufgrund dieser Zellen Entzündungen im Körper mit dem Alter zunehmen. Das Entzündungslevel in unserem Körper steigt mit dem Lebensalter. Diese Entzündungen treiben viele Alterungsprozesse an. Hält man dieses Entzündungslevel niedrig, hat man eine vielversprechende Chance, langsamer zu altern. Es scheint so, als könne man dies mit der besprochenen idealen Ernährung in Schach halten. Es wird aber natürlich auch an Medikamenten geforscht.
ABH: Wenn man all diese Hinweise beherzigt, kommt man einer gesunden Langlebigkeit also näher. Was ist realistisch möglich?
Michalsen: Da gibt es in der Wissenschaft viele unterschiedliche Meinungen. Die Forscher beschimpfen sich teilweise und bezichtigen sich der wissenschaftlichen Unredlichkeit (lacht). Mir erscheint es so, als sei unter den derzeitigen Möglichkeiten nicht mehr möglich als ein Lebensalter von 120 bis 130 Jahren. Ich würde aber gar nicht die maximale Lebensspanne als Ziel sehen, sondern idealerweise ein Leben, das bis zwei Tage vor dem Tod ohne Medikamente auskommt, um es überspitzt zu formulieren. Es ist absolut möglich, bis 90 oder 100 gesund und ohne schwerwiegende Erkrankungen zu altern. Den Großteil des Alterungsprozesses kann man, wie zuvor besprochen, selbst beeinflussen. Es kommt wie bei einem Auto auf die Pflege an. Wichtig ist, dass man erkennt, mit spätestens 50 ein paar Dinge zu verändern.
ABH: Was wird sich in der nahen Zukunft mit Blick auf Langlebigkeit noch verändern?
Michalsen: Ich denke, dass die Schere zwischen sehr gesunden älteren Menschen und sehr kranken älteren Menschen in unserer Gesellschaft immer größer wird. Da kippt etwas. Gleichzeitig macht dieser Umstand offensichtlich, was man verhindern kann. Aus wissenschaftlicher Sicht ruhen die Hoffnungen auf KI. Mit Blick auf Glucose-Sensoren und Mikrobiom-Messungen wird es relativ schnell gehen, dass man die positiven Effekte der Ernährung und des Fastens individuell sichtbar machen kann. Wir sind kurz davor, auf der App sichtbar zu machen, dass die Werte sich bessern, wenn man Essenspausen einlegt und Kichererbsen statt Currywurst isst. Der Aufschub der Belohnung fällt in gewisser Weise weg. Das ist das nächste Level.
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